Das Schriftzeichen yi („Wandlung“)

Die 64 Zeichenmuster des Yijing

Das Schrifzeichen tu shen („Geist der Erde“)

„Weit sind die Wandlungen!
Groß sind sie! Nimm sie, um das Nahe anzusprechen,
nimm sie, um das Ferne anzusprechen!
Nimm sie, um das anzusprechen,
was zwischen Himmel und Erde ist.“

Das Yijing: Eine altchinesische Weisheitskunst

Das Yijing gehört zu den ältesten und wirkmächtigsten Werken der chinesischen Antike. Seine Ursprünge liegen im Orakelwesen bzw. der Divinationskunst. Divination (von lat. divinum, das Göttliche) bezeichnete in der Antike die besondere Fähigkeit, Zeichen durch bestimmte Verfahren zu erzeugen, sie zu lesen und zu deuten. Das Herstellen der Zeichen hatte ursprünglich nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine magische Funktion. Die Divination diente der Kommunikation mit Geistern, Gottheiten und Ahnen.

Schriftzeichen sind in China seit frühster Zeit mit Magie und Macht verbunden. Dies hängt mit der Entwicklung der Schrift und seiner Verbindung mit der Orakelkunst zusammen. Die Orakelaufzeichnungen bilden die frühsten schriftlichen Zeugnisse Chinas. Im Yijing wird der Mythos von der Entstehung der Schrift aus magisch-mächtigen Ursymbolen erzählt, den acht Orakelzeichen, welche die Gesetzmäßigkeiten der Welt enthalten sollen. Die faszinierende Schönheit der archaischen Zeichen evoziert die mythische Vorstellung von einer aus der Natur stammenden, geheimnisvollen Kraft. 

Diese Kraft findet ihren Ausdruck in den Zeichenmustern des Yijing. Nach der ältesten Überlieferung (Überlieferung des Bildes) entsprechen die Muster den Naturkräften oder Vermögen der Natur: Erde und Himmel, Donner und Wind, Feuer und Wasser, Berg und See. Aus ihrem Zusammentreffen gehen die Vielfalt der Gestalten und Formen – die Wandlungen – hervor, im Yijing repräsentiert durch die 64 Zeichenmuster. Die Zeichenmuster sind nicht nur mit Naturkräften, sondern auch mit vielen Tieren, Pflanzen und Wassermotiven verbunden. Die verschiedenen Motive verknüpfen sich in dem Spruchwerk des Yijing, das auf einer älteren, mündlich tradierten Dichtung basiert, zu zahlreichen Mythen und mythischen Erzählungen.

Im Yijing öffnet sich eine faszinierende Welt von Bildern, Symbolen, Zeichen, Mustern, Sprüchen und Mythen. Dabei entsteht ein fast nahtloser Übergang von der Welt der Symbole, der Natur und ihrer Kräfte, den Sprüchen und mythischen Erzählungen zur Welt des geschriebenen Wortes, der Weisheit, und des Denkens. Ausgehend von den sieben Überlieferungen, dem Kommentarwerk, wurde das Yijing zu der einflussreichsten Quelle für kosmologisches Denken, für Ethik und Politik. Die Vielzahl der philosophischen Traditionen und Denkschulen Chinas haben alle auf das Yijing zurückgegriffen, um ihre eigenen Theorien zu entwickeln.

Mit höchstem Ansehen ausgestattet, bildete das Yijing nicht nur die Grundlage des Staatskultes und des chinesischen Kaisertums, sondern diente auch für die Entwicklung verschiedener philosophischer, religiöser, wissenschaftlicher, künstlerischer, ästhetischer und literarischer Konzepte. Zahlreiche Bände behandeln die Beziehungen zwischen dem Yijing und dem Konfuzianismus, dem Daoismus, dem Buddhismus, der Mathematik, der Medizin, der Astronomie, den Geisteswissenschaften, der Geschichtsschreibung, der Ästhetik, der Geomantie, der Architektur, dem Qigong und anderen Formen der traditionellen und geistigen Kultivierung.

Heute spielt das Yijing nicht nur eine bedeutende Rolle im Bereich der wissenschaftlichen Forschung, als psychologischer und spiritueller Leitfaden (usw.), sondern ist auch zu einem Vehikel für den zeitgenössischen Ausdruck eines wiederbelebten, kulturellen Stolzes geworden, der sich auf Chinas lange und ehrwürdige Vergangenheit konzentriert.

Der psychologische Wert des Yijing

„Das Yijing ist ein Buch, das den Menschen lehrt Introspektion zu üben.“

Das Yijing hat lange schon eine explizit psychologische Dimension. Während Richard Wilhelm in seiner Übersetzung das Yijing zu einem universellen Buch der Weisheit zu erheben suchte, betonte C. G. Jung das Potential des Yijing als eines Werkzeugs der Selbsterkenntnis. Jung sah in dem Yijing zwei seiner grundlegenden Ideen verkörpert: Die Archetypenlehre und das Prinzip der Synchronizität.

Die Archetypen werden zumeist als kulturübergreifend gültige, unbewusste, zugleich triebhafte und geistige (d. h. instinktiv-schöpferische) Verhaltensmuster beschrieben, welche die Weise des menschlichen Denkens und Handelns bestimmen. Sie drücken sich in Symbolen (archetypische Bilder) aus, die in der Kunst, in der Literatur, in den Mythen und in Träumen erscheinen und eine deutliche Autonomie in Bezug auf bewusst gesteuerte Prozesse zeigen.

Die Archetypen und archetypischen Bilder gewinnen ihre Bedeutung für unser Leben daraus, dass durch sie eine Brücke zwischen der transpersonalen Schicht des Unbewussten und der ich-bewusstseinszentrierten Tätigkeit der individuellen Psyche hergestellt wird. Dabei zeigt sich, dass jeder Gegenstand der Wahrnehmung unumstößlich an die psychische Bedingung des Wahrnehmenden gebunden ist, aber dass diese Bedingungen nicht nur individuell formiert sind, sondern auch von einer anderen (kollektiven) Größe erzeugt werden. Das Yijing bildete für C. G. Jung ein wichtiges symbolisches Medium, um diese Verbindung herzustellen.

Jungs Idee der Synchronizität erscheint explizit in seinem Vorwort zu Richard Wilhelms Übersetzung des Yijing. Es bezeichnet das gleichzeitige Auftreten von psychischen Zuständen und äußeren Ereignissen, ausgehend von denen sinngemäßen Koinzidenzen entstehen und die eine Transformation im Leben der Individuen hervorrufen, die sie erleben. Nach Jung basiert die Methode des Yijing auf dem Prinzip der Synchronizität: „Die Methode [des Yijing] ist, wie alle divinatorischen, das heißt intuitiven Techniken, auf das Prinzip des Synchronizitätzusammenhanges gegründet.“

Jung spricht in Bezug auf das Yijing auch von einer Methode der intuitiven Ganzheitserfassung einer Situation oder eines Problems. Um das Walten der Natur in ihrer uneingeschränkten Ganzheit kennenzulernen, bedarf es einer Fragestellung, die möglichst wenig oder womöglich gar keine Bedingungen stellt und es damit der Natur überlässt, aus ihrer Fülle zu antworten. Dabei bilden die dem Unbewußten und der Natur in der Gestalt von Gegensätzen eigentümlichen Zahlen das zentral verbindende Element zwischen der psychischen Innen- und der physischen Außenwelt. Die Vorausetzung des Yijing liegt in der synchronistischen Entsprechung zwischen dem psychischen Zustand des Fragenden und dem antwortenden Zeichen.

Aus der Perspektive Jungs trägt jedes Ereignis und jeder Umstand eine Bedeutung, worin sich ein transpersonales Muster ausdrückt. Was Jung am Yijing schätzte, war, dass es Mittel zur Verfügung stellt, mit denen die subjektiven Anliegen einer Person mit der Symbolik der Zeichen verbunden werden können. Jedes Objekt oder jede Konfiguration von Dingen kann symbolisch gelesen werden, aber das Yijing bietet eine besonders reiche Palette von Bildern und Betrachtungen.

 

Das Yijing in der Praxis: Therapeutisches Arbeiten mit Symbolen

Das Yijing in der Praxis zum Einsatz zu bringen, bedeutet für mich einen kreativen Weg des Umganges mit Fragen, welche die eigene Lebenssituation und Entwicklung betreffen. Ausgehend von einem subjektiven Anliegen, werden mittels verschiedener Techniken Bilder und Symbole hervorgebracht, die einen Sinn und Bedeutungsgehalt tragen.

Durch eine Analyse der Zeichen eröffnet sich ein tieferer Zusammenhang, der Einblick in den Hintergrund der Frage und in die in einer Situation wirksamen Faktoren gibt. Das Yijing ist ein intuitives Werkzeug, das es ermöglicht, einen symbolisierenden Bezug des Menschen zu sich und zu seinem Leben herzustellen.

In der Herstellung eines symbolisierenden Bezugs des Menschen zu sich und zu seinem Leben findet Sinngebung und Sinnerfahrung statt. Arbeit mit Symbolen bedeutet das Schöpfen von Sinn und Bedeutung für das eigene Leben aus den Ressourcen des Unbewußten. Die erweckten, kreativen Impulse lösen für diejenigen, die offen dafür sind, tiefgreifende Entwicklungsprozesse aus.