
„Individuation bedeutet zu dem eigenen Selbst zu werden.“
Therapie oder die Sorge um die Seele
Das Wort Therapie kommt aus dem Griechischen, wobei therapeia Dienen oder Dienst bedeutet. Demnach ist der Therapeut (therapon) einer, der dient bzw. einen Dienst leistet. In der altgriechischen Literatur findet sich der Begriff Therapeuein auch im Sinne von pflegen, behandeln, dienen oder im Zusammenhang mit der dem Verehren von Göttern, Eltern ehrfurchtsvoll behandeln, Kinder versorgen und Land bebauen. Platon verwendet den Ausdruck psychän therapeuein: Sich um die eigene Seele kümmern. Therapeuein bezieht sich demnach auf alles, worum man sich kümmert.
Die „Sorge um die Seele“ (Selbstsorge) ist eine Methode, die ursprünglich aus der griechischen Philosophie, nämlich von Platon stammt. Man findet sie zuerst in den frühen sokratischen Dialogen. Bei Platon geschieht das „Sich sorgen um die Seele“ (ἐπιμελεῖσθαι τῆς ψυχῆς) um der Tugend willen. Der Pflege der Schönheit der Seele den Vorzug geben – weltlichen Gütern nicht mehr Achtung zu geben als dieser – sich um Vernunft und Wahrheit kümmern – dies sind die Sokratischen Grundsätze.
Die Forderung des Sokrates, sich um sich selbst und um die Seele zu sorgen, ist ein immer wiederkehrendes Thema in den platonischen Dialogen. Dabei bedarf die „Sorge für uns selbst“ (ἐπιμέλεια ἡμῶν αὐτῶν) der Selbsterkenntnis. Die Sorge um die Seele kann als eine Form der Suche nach Selbsterkenntnis verstanden werden, sofern die Seele mit dem Selbst identisch ist. Philosophie als Prüfung der eigenen und fremden Lebensführung ist eine Form der Fürsorge für die Seele, nämlich des Versuches eine harmonische Persönlichkeit auszubilden. Die Umwendung des Menschen auf sich selbst und das Erkennen dessen, was man zum Gegenstand seiner Sorgen machen müsse, bildet den Anfang aller Philosophie.
Die Beziehung
Der Mensch entwickelt sich selbst durch seine Beziehungen zu Anderen und zur Umwelt. Beziehung bildet die Grundlage der Wirksamkeit von Therapie und Beratung. Im Rahmen einer vertrauensvollen, durch Echtheit und Empathie getragenen Beziehung wird es möglich, einen Zugang zu dem eigenen Inneren zu schaffen, Potenziale freizulegen und sie für die Selbstentwicklung fruchtbar zu machen.
Im Zentrum steht der jeweilige Mensch in seinem individuellen Kontext, seinem eigenen subjektiven Leben und Erleben. Im gemeinsamen Gespräch soll dieser subjektiven Dimension Raum gegeben werden. Dabei gilt es, den Menschen mit Blick auf die Realisierung seiner Fähigkeiten und Ziele und den gelingenden Umgang mit schwierigen Lebenssituationen, inneren Konflikten und Beziehungskonstellationen zu unterstützen und zu begleiten.
Aus Sicht der humanistischen und psychodynamisch orientierten Psychologie liegt das übergeordnete Ziel von Therapie und Beratung in dem Anstoß zu einer vertieften Auseinandersetzung des Menschen mit seinem eigenen Selbst, dem Sich-Einlassen auf einen fortschreitenden Prozess der Individuation (Selbstwerdung), worin sich das tiefe menschliche Bedürfnis nach Sinnorientierung und Ganzheit erfüllen kann.
Der Mensch aus Sicht der humanistischen Psychologie
Die humanistische Psychologie orientiert sich an einer holistischen (von griechisch holos, ganz, vollständig) Sicht des Menschen, d. h. sie betrachtet den Menschen in seiner bio-sozialen Ganzheit. In seinem Dasein in der Welt erscheint der Mensch und die ihn umgebenden Phänomene eingebunden in ein umfassenderes, intersubjektiv strukturiertes und wechselseitig aufeinander bezogenes, organisch-dynamisches Ganzes.
Eigentümlich ist dem Menschen dabei sein notwendiges Eingebundensein in eine soziale Gemeinschaft, die als Basis seines Strebens nach Freiheit, Autonomie, Selbstverwirklichung, Sinnorientierung und Ganzheit angesehen werden kann. Im Mittelpunkt der humanistisch orientierten Therapie steht das psychische Wachstum (die persönliche Entwicklung und Ausdifferenzierung) durch die Entfaltung menschlicher Potentiale hin zu einem durch Sinn, Selbstverantwortung und Echtheit getragenen Lebens.
Kennzeichnend für die humanistischen Verfahren ist die Annahme, dass der Mensch die Fähigkeit für ein kreatives Wachstum und für Veränderung – die für die Befreiung aus psychischem Leiden notwendigen Ressourcen – in sich selbst trägt. Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstreflexion, Introspektion und Kreativität ermöglichen ihm fortlaufende Prozesse der Entwicklung, der Selbstdifferenzierung und Gestaltung seiner Selbst und seines Lebenshorizontes.
Die philosophischen Wurzeln der Humanistischen Psychologie liegen neben existenzphilosophischen Ansätzen (Sören Kierkegaard, Martin Buber, Karls Jaspers, Jean-Paul Sartre und Albert Camus) insbesondere in der Phänomenologie (Edmund Husserl, Max Scheler, Maurice Merleau-Ponty). Die Phänomenologie stellt darüber hinaus als ursprünglich philosophische Disziplin eine wesentliche Grundlage einer deskriptiven und verstehenden Psychiatrie dar. Die Phänomenologie untersucht zentrale Themen der Leiblichkeit, Räumlichkeit, Zeitlichkeit, der Intentionalität und der Beziehung zum Anderen (Intersubjektivität).
Phänomenologisch orientierte Psychologie
Die Phänomenologie nimmt ihren Ausgangspunkt in der sinnlichen Erfahrung des Menschen, der Welt der Phänomene als das dem Menschen unmittelbar sinnlich und bewusst fassbar Erscheinende. Husserl prägte den Begriff der Intentionalität des Bewusstseins, der besagt, dass Bewusstsein immer auf irgendeine Gegenständlichkeit gerichtet, d. h. Bewusstsein von etwas ist.
Für eine phänomenologisch orientierte Psychologie ergibt sich hieraus methodisch die Ausrichtung auf die intentionale Person-Umwelt-Beziehung. Intentionale Analyse ist Situationsanalyse, weil die Person immer eine (in der Welt und in einem spezifischen Lebenskontext) situierte Person ist, deren Erleben und Verhalten nur innerhalb dieses erfahrungsmäßigen Bezuges Sinn und Bedeutung erhält.
Im Zentrum der Phänomenologie steht das erfahrende Subjekt und sein Eingebundensein in die Lebenswelt als unhintergehbare Voraussetzung jeglicher Form von Objektivität. Das Verhalten einer Person ist die sinnvolle Antwort auf eine Situation, die für das Subjekt Sinn hat. Die subjektive Bedeutungszuschreibung ist dabei maßgebend.
Die phänomenologische Haltung
Die Urteilsenthaltung, d. h. das Absehen von allen Vorannahmen, die den unmittelbaren Zugang zu etwas verdecken können, bildet die Voraussetzung der phänomenologischen Haltung. Sie kann als eine Haltung der Offenheit unter der Zurücknahme jeglichen Vorwissens in der Hingabe an den Anschauungsgehalt beschrieben werden.
Die phänomenologische Haltung liegt in der Offenheit zu dem Anderen. Sie belässt ihn in seiner Eigenart und in seinem Sosein. Als therapeutische Haltung ist ihr Anliegen das Ansichtig- und Offenbarwerden des Anderen von ihm selbst her. Für den Therapeuten gilt es die Bedeutung dessen, was ein Klient artikuliert, aus der Perspektive innerhalb des Bezugsrahmens des Klienten selbst zu verstehen.
Dies bedeutet die Enthaltung des Urteils von einer vermeintlich vorgegebenen objektiven Realität. Die einzige Realität, die einen phänomenalen Charakter aufweist und daher Bedeutung erhält, ist die subjektive Realität des Klienten und des Therapeuten. Es ist die intersubjektive Realität des interpersonalen Feldes, aus dem heraus Realität sich konstituiert und Verstehen entwickelt.